Wenn die Zeit wie im Flug vergeht:

Zu Paul Depprichs Performance : Kommt Ai Weiwei mit dem Fahrrad?“


Selbstverständlich kommt Ai Weiwei nicht mit dem Fahrrad, wenn er dem erlahmenden westlichen  Kunstbetrieb mit fernöstlicher Inspiration auf die Sprünge helfen will. Er bedient sich – wie Millionen anderer, die heute auf anstrengungslose Weise einen Ortswechsel vornehmen wollen – der schnellstmöglichen Transporttechnologie: Der Flug PEK-FRA dauert bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 998 km/h 8 Stunden und 33 Minuten.
Dieselbe Dauer hat der Film, der den Weg von LH721 in voller Länge dokumentiert: Ohne Schnitte oder andere Manipulationen zeigt Paul Depprichs „acceleration-deceleration“, was während des Fluges einer Boeing 747-400 von Peking nach Frankfurt zu sehen ist: ein Film, der nichts erzählt – und alles zugleich: von der Routine einer Luftfahrt zwischen den Welten und von der Diskrepanz zwischen dem, was faktisch vorgefallen, und dem, was als visuelles Resultat erkennbar ist. Der Film zeigt, was zu zeigen ist: ein authentischer Reisebericht, dessen dialektische Narration nichts verschweigt oder beschönigt, und der nichts – oder viel – zu wünschen übrig lässt.
Für diese Dislokation bietet das aviatorische Roadmovie eine ungewohnte Aussicht: Das allen Fluggästen vertraute seitliche Vorbei hat einem frontalen Gegenüber, einem unmittelbaren Geradeaus Platz gemacht: einer Sichtweise, die nur wenigen vorbehalten ist. Die Projektion dieser Blickrichtung nach vorn ist Bestandteil eines multimedialen Ereignisses, das unter dem rhetorisch fragenden Titel „Kommt Ai Weiwei mit dem Fahrrad?“ die visuelle Ebene mit einem Live-Soundtrack improvisierender Musiker parallelisiert. Cockpit-Perspektive und instrumentale Tonspur, sporadisch ergänzt durch den originalen Funksprechverkehr, werden in den Ablauf eines performativen Geschehens eingebunden, das die Streckenführung um den halben Globus nachvollzieht. Dabei verschmelzen die minimalisierte freie Improvisation der Musiker und die fließende Abbildung des durch technische Bedingungen streng determinierten Fluges zu einer optisch-akustischen Gesamtstruktur, bei der weder der Film die Musik illustriert, noch das Bild die Musik kommentiert. Auf der Projektionsfläche spielt sich ab, was sich auf der instrumentierten Ebene wiederholt: keine durchkomponierten Melodien, sondern die sicht- und hörbar vergehende Zeit, die in Bild und Ton unmerklich, aber unaufhaltsam einen Zielpunkt ansteuert. Denn wo die Bilder fehlen, kann die Musik nichts abbilden. Die musikalische Synchronisation verweigert also die Interpretation des gefilmten Geschehens, sie liefert nicht die Emotionen nach, die dem sachlichen Bildbericht abgehen. Die akustische Flugbegleitung verkürzt nicht die Zeit, noch kann sie sie vertreiben; sie macht sie allenfalls erträglicher, indem sie in die totale Redundanz des visuellen Ablaufs Innovation in Form von Hörinformation integriert.
Diese spezifische Verschränkung von Bild und Ton im Rahmen eines anspruchsvollen Langzeit-Ereignisses bindet sich ein die Thematisierung des Phänomens Zeit, wie sie mit augenscheinlich zeitloser Aktualität in allen künstlerischen Medien sowie zugleich in Philosophie und Soziologie verhandelt wird. Zeitbewusstsein und Zeiterfahrung – beide in hohem Maße kultur- und gesellschaftsabhängig – nehmen in unterschiedlichen ästhetischen Praxisbereichen der Gegenwart prägnanten Raum ein. Im Gegensatz aber zu den zumeist symbolischen Exemplifikationen von Zeitlichkeit wird diese in Paul Depprichs Projekt real erlebbar gemacht. Es argumentiert wesentlich mit dem Paradoxon, dem zufolge der Flug dann als am langsamsten empfunden wird – bis hin zum Gefühl des vollkommenen Stillstands –, wenn er real die höchste Geschwindigkeit gewonnen hat. Hingegen wird er in denjenigen Phasen am schnellsten erlebt, in denen er objektiv am langsamsten ist. Start und Landung sind nämlich – wenngleich trügerisch – der Wahrnehmung zugänglich, während bei Höchstgeschwindigkeit ein haltloses Hängen im Nichts illusioniert wird, bis – mit abnehmender Beschleunigung – der Realität durch das Fenster wieder Zutritt gewährt wird.
In dieser Vertauschung der Sinneseindrücke wird also der Widerspruch zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiven Tatbeständen zum Thema einer Inszenierung von meditativem Charakter. Eingespannt in Dualismen wie stationär-mobil, schnell-langsam, frei-determiniert, beschleunigt-entschleunigt findet der „rasende Stillstand“, von dem in Paul Virilios „Dromologie“ die Rede ist, seine Entsprechung in Paul Depprichs Konzept. Eine terminologische Verschränkung ereignet sich, wie sie bereits Ludwig Harig (unter Bezugnahme auf Nikolaus von Kues) in einem experimentellen Text durchexerziert hat: „die unbewußte Bewegtheit wird zur bewegten Unbewegtheit, bevor sich das unwandelbare Gewandeltsein in eine unwandelbare Bewegtheit und die unbewegte Bewegung in ein unbewegtes Gewandeltsein verwandelt, aus dem eine wandelbare Unbewegtheit und eine bewegte Unwandelbarkeit hervorgehen“.
Das Projekt „Kommt Ai Weiwei mit dem Fahrrad?“ legt also jene Leitplanken nieder, an denen entlang sich ein effektives Wirklichkeitsverständnis auszurichten gewöhnt hat; es rüttelt an den Eckpfeilern individueller Realitätsbewältigung durch das Spiel mit den absoluten Größen von Raum, Zeit und Bewegung, die ein mechanistisches Universum zur Voraussetzung hat.
Die Entstehung des Films „acceleration-deceleration“ verdankt sich einer realen Dislozierung, während das Filmpublikum im selben Zeitraum nicht von der Stelle kommt. Die von ihm physisch ausgestandene, zum Erlebnis gewordene Zeit löst sich also von dem Raum, der sie überhaupt erst konstituiert. Zwar entspricht dem absolvierten Zeitraum ein geografischer Raum, eine Distanz, die jedoch physisch undurchmessen bleibt: Das Performance-Publikum bleibt hinter der Zeit zurück.
Das Konzept thematisiert somit auch den Modus der Langeweile: jenen mentalen Zustand einer erwartungs- und antriebslosen, weil handlungsbefreiten Leere in einer ziel- und orientierungslosen Gegenwärtigkeit. Eingetaucht in die blickdichte „Suppe der Zeitlosigkeit“ (John Banville), dehnt sich den Zuschauenden die Zeit zur Monotonie eines Fortschritts, an dem sie nicht teilhaben. Im Verlauf dieses „richtungslosen Wartens“ (Hermann Broch) wird die Performance zur Zumutung: Das Publikum muss sich die vorgeschriebene Zeit nehmen. Keine Abkürzung ist zugelassen. Das Konzept kennt somit nur die totale Einlassung oder das Scheitern an seinem Anspruch.
Mit seinem monumentalen Zeitrahmen stellt also das Projekt die herrschenden Produktions- und Rezeptionsumstände in Frage. Die aktuelle Argumentationsstruktur der Bewegtbilder, allen voran des Fernsehens, glaubt, um dem Zapping zuvorzukommen, dieses an sich selbst vollziehen zu müssen. Querliegend zu den visuellen Medien, die durch schnelle Schnitte und eine hektische Effektdramaturgie die Aufmerksamkeit zu binden und gleichzeitig zu zerstreuen suchen, bietet Paul Depprich mit seinem Entschleunigungsprogramm zugleich eine rezeptionshygienische Veranstaltung. „Kommt Ai Weiwei mit dem Fahrrad?“ übersteigt nämlich nicht nur die geltenden Sehgewohnheiten, sondern auch die individuelle Aufnahmebereitschaft und -möglichkeit. Als Alternative zu den "abendfüllend“ genannten Produktionen der kommerziellen Anbieter führt diese vor, was es bedeutet, wahrhaft abendfüllend – und mehr als das – zu sein.
Um nun in seiner Widerständigkeit gegenüber den Konventionen des Medienbetriebs wirksam werden zu können, bedarf das Konzept des Standards der etablierten Aufführungssituation von Kino, Theater oder vergleichbarer Stätten. Es entfaltet seine subversive Wirkung erst im Kontext derjenigen Wahrnehmungsumstände, die es kritisch übersteigt. Das Alternative zeigt seine Brisanz vor dem Hintergrund des performativen Normalfalls.


Dr. Harald Kimpel

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